Zum Inhalt springen
Boris Kochan

Boris Kochan

Eberhard Spangenberg beschreibt in seinem Festvortrag am 30. September 2022 anlässlich von Boris Kochans Ausscheiden aus der Geschäftsführung von Kochan & Partner die vielfältigen Verbindungen zwischen »zwei Jungs« … und zwei Unternehme(r)n.



Wein, Sein, Laim, Schein

(Ortsbestimmung)

Zwei kleine Jungen. Sie spielen im Sandkasten zusammen. Sie sind vom Alter her ein paar Jahre auseinander. Ist ohnehin egal, der eine Sandkasten ist in Berlin, der andere in München.

Dann, der eine Junge wohnt in Laim, in der Veit-Stoß-Straße. Dorthin ist er mit 8 Jahren mit seiner Mutter gezogen. Der andere Junge wohnt in Nymphenburg, in der Ferdinand-Maria-Straße. Wenn man auf dem Stadtplan dazwischen eine Linie zieht, gibt es eine Mitte. Hirschgartenallee 25.

Der Junge aus Nymphenburg haut mit 3 Jahren von zuhause ab. Er schleicht zum Gartentor raus, läuft zum Romanplatz, steigt dort in den O-Bus. O-Busse sind Elektrobusse, die durch zwei Verbindungsstangen, die mit Federkraft nach oben gedrückt werden, mit der stromführenden Oberleitung verbunden sind. Der Stangerlbus, so nennen ihn die Münchner, verkehrt zwischen Romanplatz und Hofmannstraße, über die Wotanstraße, die Laimer Unterführung (wo die Stangerl fast auf das Dach des Busses gedrückt werden) und die Fürstenrieder Straße. Die Strecke mit dem O-Bus wird später für den kleinen Jungen auch der Schulweg.

Gelegentlich springen die Stangerl aus der Leitung und der Bus bleibt stehen. Fahrer und Schaffner versuchen dann, mit Seilen, die an den Gleitschuhen befestigt sind, die Stromabnehmer wieder in die Oberleitung einzuhängen.

Der kleine Junge steigt in den Anhänger des O-Bus, allein, ein paar andere Fahrgäste sind auch da. Der Bus hält an der Haltestelle Hirschgartenallee. Hier bemerkt der Schaffner den Jungen und fragt, wo er hinwill. »An den großen See«, sagt der kleine Junge und meint den Starnberger See. Der gefällt ihm. Der Bus fährt weiter. Der Schaffner bittet einen hilfsbereiten Mann, sich um den Jungen zu kümmern und ihn nach Hause zu bringen. An der Haltestelle Wotanstraße steigt der Mann mit dem Jungen aus. Er versucht herauszubekommen, wo er wohnt. »Am großen See«, sagt der Junge. Er will nicht nach Hause.

Der kleine Junge aus Nymphenburg bekommt drei Jahre später sein erstes Fahrrad vom Fahrradhändler Breitenwieser in der Hirschgartenallee. Damit fährt der Junge mit seinen Freunden zu den Bombentrichtern auf dem zerstörten Bahnstrang hinter dem Hirschgarten. Dort sind durch Bombeneinschläge aufgeworfene Erdlöcher mit 10 bis 20 Metern Durchmesser, in deren Mitte sich Gestrüpp und Regenlachen bilden. An den Innenflanken der Bombentrichter drehen die Kinder mit ihren Fahrrädern ihre Runden. Es bilden sich feste Fahrwege. Wie in einem Radstadion. Die Eltern warnen vor Bombenblindgängern. Ende Gelände.


(Frühstarter)

Der andere kleine Junge wächst in Berlin auf, 8 Jahre, bis er mit seiner Mutter nach München zieht. Sicher ist, dass der kleine Junge, der jetzt in Laim wohnt, schon mit 16 und 17 kaum noch zuhause bleiben mag. Er macht eine Ausbildung in Layout und Typographie, volontiert bei der Süddeutschen Zeitung, lernt dazu im Satzstudio und in der Lithographie. Gerade mal 18 Jahre alt legt er einen Blitzstart hin: Er gründet mit Freunden 1981 seine eigene Firma, ein Grafik- und Textbüro, erweitert dieses zwei Jahre später um Satz und Litho und 1989 um den Geschäftszweig ZELIG DRUCK.

Es kommt die Zeit, wo sich die Wege der beiden kleinen Jungen, dem Sandkasten nie ganz entwachsen, regelmäßig kreuzen. Weniger auf der Linie zwischen Laim und Nymphenburg. Eher in der Maxvorstadt, in der Schellingstraße. Noch bevor der kleine Junge aus Nymphenburg 1983 dort einen Weinladen eröffnet, hat der kleine Junge aus Berlin schon seine Spürnase vorne. Er kreuzt in Ladenlokal in der Schellingstraße 60 auf, damals unter dem Vorbesitzer noch ein Honigladen, und kauft für seine Freundin Honig ein.


(Zusammmenarbeit)

Als der Laden dann ein Weinladen ist, gehört der kleine Junge zu den ersten Kunden und kauft dort eine Flasche Chianti Rufina von Selvapiana. Wahrscheinlich ist das die erste Begegnung der beiden Jungen aus der Sandkiste.

Die erste Preisliste des Weinladens, 1984, ist ein langer Streifen, die Weine mit Schreibmaschine schwarz/weiß untereinander aufgelistet. Dem Jungen aus Berlin fällt auf, dass der Streifen nicht besonders gut gestaltet und sehr simpel ist. Er bietet dem anderen kleinen Jungen Besserung an. Die Preisliste bleibt ein langer Papierstreifen, jetzt aber schön gesetzt und in 4 Farben gedruckt.

Das ist der Anfang einer langen Zusammenarbeit. Aus den langen Streifen werden kleine Broschüren und später fast buchstarke Kataloge, jedes Jahr zusammen neu und aufwendig gestaltet. Immer auf sorgfältig ausgewähltem, feinem Papier mit griffiger Haptik. Kataloge, die in ihrer Zeit inhaltlich und gestalterisch Vorbilder sind und maßgeblich für den deutschen Weinhandel. Die Firmenschrift wird überarbeitet, das Logo auch. Plakate werden entworfen und Litfaßsäulen in ganz München damit beklebt. Originelle Werbemittel, Briefpapier, Einladungen, Mailings, Sonderprospekte folgen. Es sind wunderbare Jahre der Zusammenarbeit, immer auch in engem persönlichen Kontakt.

Zwischendurch gründet der kleine Junge aus Nymphenburg Slow Food Deutschland. Für die Eintragung beim Notar braucht er 7 Unterschriften. Eine fehlt. Die holt ein Kurier schnell bei dem anderen kleinen Jungen. Dessen Firma unterstützt fortan den jungen Verein Slow Food durch viele Gratis-Ausgaben der Schneckenpost, redaktionell, gestalterisch und in der Herstellung.

1991, der kleine Junge aus Berlin zieht mit seiner Firma in die Hirschgartenallee 25. Eine Druckerei mit einer riesigen 5-Farb-Druckmaschine wird eingerichtet, die Räume werden ständig erweitert, die Halle kommt dazu. Garagen werden zu Küchen und Weinlagern umfunktioniert. Arbeitstreffen, Feste, Ausstellungen z.B. die jährliche vom Type Directors Club (TDC), Branchen-Treffen und Meetings dort, ein Place to be. Arbeiten und Leben in der Hirschgartenallee, das ist auch für die Kunden irgendwie eines.

Der der kleine Junge aus Berlin gründet 1995 Peppermind, die Agentur fürs Netz. Sie realisiert 2003 die Website und den Shop der Firma des anderen kleinen Jungen. Seitdem sagt der eine kleine Junge dem anderen kleinen Jungen, dass die Website technisch völlig überholt ist und endlich neu gemacht werden muss.

Die beiden kleinen Jungen sind Unternehmer, die Firmen der beiden wachsen, sie wachsen unterschiedlich. Der eine kleine Junge macht ein paar Läden auf und baut einen Großhandel auf, der andere entwickelt eine große Agentur, akquiriert neue Kunden, die wiederum auch wachsen, erschließt neue Aufgabengebiete. Mehr Mitarbeiter, mehr Apparat. Irgendwann beschließen die beiden Jungen, dass Ihnen ihre Freundschaft wichtiger ist als die Zusammenarbeit.



(Freundschaft)

Was durchgehend bleibt und sogar noch wächst, ist diese Freundschaft der beiden kleinen Jungen. Sie gehen beide eigene und gemeinsame Wege, Sie teilen aber immer wieder jede Menge Interessen.

Beide sind passionierte Weintrinker, bei dem einen wird das zum Beruf. Auch der andere, inzwischen ein profunder Kenner, versucht sich im Weinhandel, vornehmlich mit den guten Tropfen von Clemens Busch.

Beide kleinen Jungen sind passionierte Hobby-Köche und halten sich eigentlich für Profi-Köche. Bei den Rezepten, beim Einkauf und in der Zubereitung gibt es kleine Unterschiede, doch beide haben etwas gemeinsam: Gut muss es sein und viel muss es sein.

Beide kleine Jungen lieben die Gastronomie. Der Junge aus Berlin versucht sich in diesem Fach in einem Lokal mit dem französischem Namen »La Rue«. Der kleine Junge aus Nymphenburg macht mit 19 seine erste Kneipe auf und gründet später ein kollektives Café in Neuhausen.

Beide kleine Jungen lieben das Reisen und beide lieben Italien. In den ersten Jahren ist es die Toskana, die beide gemeinsam und alleine bereisen.

Der große kleine Junge aus Berlin bekommt einen kleinen Jungen – und eine neue Dimension im Leben. Er entschließt sich, Englisch zu lernen. Er ist bis dahin noch nie außerhalb Europas gereist. Er beginnt, die Welt zu erobern. Er geht 2006 auf eine mehrmonatige Reise in die USA, allein, mit seinem mittlerweile sechsjährigen Pavlo. Danach erobert er Asien, erst Thailand und Bangkok, später Südkorea, Hong Kong, Japan, und auch den arabischen Raum.

Einmal mietet er an Silvester ein privates Boot inklusive Steuermann auf dem Chao Phraya, dem Fluss in Bangkok, und lädt den anderen kleinen Jungen zum gemeinsamen Feiern ein. Zusammen mit Pavlo ein stilles, aber unvergessliches Fest auf dem Boot im Lichtermeer, voller Staunen und natürlich mit deutschen Weinen von Prüm, Dönhoff, Clemens Busch und anderen.

Seit vielen Jahren besuchen die beiden kleinen Jungen regelmäßig gemeinsam die Biennale in Venedig über mehrere Tage, wohnen in einer Wohnung nahe de Rialto-Brücke und machen sich ein aktuelles Bild von der Kunst der Welt … und sie besprechen die Welt. Lange Fußwege, tiefe Gespräche, viele Eindrücke, typisches venzianisches Essen, viel Wein.

Beiden Jungen genügt es nicht, alleine zu reisen. Sie tun sich auch als Reiseveranstalter und Reiseleiter hervor. Der eine stellt anspruchsvolle Reiseprogramme für die Mitglieder und Freunde der Typographischen Gesellschaft München (tgm) auf und reist mit seinen Gruppen u.a. nach Israel, Armenien, Bangkok. Der andere organisiert Weintouren in die Weingebiete Europas, vornehmlich Italiens und später Weinreisen auf den exklusiven SEA CLOUD Segelschiffen.

Beide kleine Jungen lieben Bücher. Nicht nur zum Sammeln und zum Lesen. Der kleine Junge aus Berlin und Laim bringt in seinem prokonVERLAG fein gestaltete Bücher heraus. Der andere kleine Junge gründet 1988 einen eigenen Verlag, verlegt u.a. kulinarische Bücher und Literatur von Alfred Kubin und Klaus Mann. Er arbeitet dabei auch mit den führenden Buchgestaltern der Zeit zusammen.

Beide kleinen Jungen lieben auch das Schreiben. Der eine publiziert mit intellektuellen Kollegen und Freunden den wunderbaren Newsletter »Eight days a week – Streifzüge durch den Wandel«, der seit 2020 wöchentlich erscheint. Der andere kleine Junge ist auch Buchautor und publiziert seine Kolumne SEMPLICE auf seiner Website, der andere ist dabei ihm gelegentlich ein hilfreicher Lektor und gibt jede Menge Denkanstöße.

Mit erweitertem Horizont erobert sich der kleine Junge aus Berlin von der Hirschgartenallee aus die Welt. Er wird Erster Vorsitzender der tgm und initiiert die EDCH (vormals QVED), mittlerweile Europas größte Editorial-Design-Konferenz. Schließlich wird er erster Präsident des neu formierten Deutschen Designtags und ist heute zusätzlich Vizepräsident des Deutschen Kulturrats. Der andere kleine Junge ist im Stiftungsrat der Internationalen Jugendbibliothek in der Blutenburg, gleich hier hinter dem Nymphenburger Park gelegen.

Genug der Gemeinsamkeiten. Nein, wir gehen jetzt nicht mit dem einen kleinen Jungen nach Spanien. Wir bleiben für heute an diesem Ort. Gut 30 Jahre Hirschgartenallee! Eine lange Zeit, mehr als eine Zwischenstation, nicht nur für die beiden kleinen Jungen, sondern für die Partner, Mitarbeiter, Kunden und Freunde. Meine Idee: Vielleicht war die Hirschgartenallee 25 selbst der große Sandkasten?

Neue Orte, neue Verantwortlichkeiten, neue Projekte stehen an. Ich bin dabei, und freue mich darauf, mit allen, die hier sind.

Eberhard Spangenberg ist in München geboren und aufgewachsen, wo er auch heute lebt. Das Wirken des Vaters zweier Töchter umfasste – unter anderem – verschiedene selbständige Tätigkeiten in der Gastronomie, ein Studium, die Tätigkeit als Buchautor und Verleger sowie die Gründung der Bewegung Slow Food Deutschland. Im Jahr 1983 eröffnete er das erste Ladengeschäft von GARIBALDI in der Schellingstraße 60. Von 1988 bis 1992 war er selbständiger Verleger der edition spangenberg, die u.a. Klaus Mann, Alfred Kubin und eine Reihe kulinarischer Bücher herausgebracht hat, dann bis 2000 Herausgeber der edition spangenberg bei Droemer Knaur. 1991/1992 begründete er gemeinsam mit Carlo Petrini die Bewegung Slow Food Deutschland und engagierte sich danach einige Jahre im Vorstand. Eberhard Spangenberg ist Inhaber und Geschäftsführer von GARIBALDI. Die wirtschaftliche, inhaltliche und personelle Ausrichtung des Betriebs liegen in seiner Verantwortung. Die Gestaltung des Sortiments mit dem Mitarbeiterteam, die Konzeption von Marketing und Werbung, die Leitlinien der Verkaufsarbeit und die Ladenentwicklung sind seine zentralen Arbeitsfelder. Nicht zu vergessen sind seine lebendigen Kontakte zu Winzern, Gastronomen, Journalisten und Kollegen, die das „Netzwerk GARIBALDI“ ausmachen.
https://www.garibaldi.de/mitarbeiter/eberhard-spangenberg